Die Japan-Reise war ein alter Traum. Das Land fasziniert mich in vieler Hinsicht: kulturell, kulinarisch, ästhetisch, aber nicht zuletzt natürlich technologisch. Zur Kirschblütensaison war es nach jahrelanger Planung der Reise so weit. Die Pandemie stand nicht mehr im Weg, die beruflichen Verpflichtungen hatte ich seit einem Jahr rund um die Reise herumgebaut, und damit konnte es endlich Richtung Osten gehen, ins Land der aufgehenden Sonne.
Dass mich der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen technologisch faszinieren würde, hatte ich erwartet. Auch den Skytree, der 634 Meter hohe Fernseh- und Rundfunksendeturm in Tokio, hatte ich mir als ingenieurtechnisch beeindruckend vorgestellt — und wurde nicht enttäuscht. Überrascht haben mich hingegen die zahllosen Stromkabel, die überirdisch das jeweilige Stadt- und Ortsbild prägen. Offenbar gibt es Bestrebungen, Stromkabel künftig mehr unterirdisch zu verlegen wie in Europa, aber in Tokio sei dies erst bei rund 8 Prozent der Fall. Vermutlich ist es einfacher, nach einem der zahlreichen Erdbeben, Stromkabel überirdisch zu reparieren. Was mir bekannt war: Getränkeautomaten sind in Japan zahlreich. Dass sie jedoch bis auf den abgelegensten Inseln oder sogar auf Bergen stets frisch befüllt und auch warme Getränke verfügbar sind, hat mich verblüfft. Man kann bar oder mit zahllosen Apps bezahlen – überhaupt ist Japan sehr inklusiv, was Bargeld und Bezahlmöglichkeiten betrifft. In einem Buchladen in Kyoto fand ich ein ganzes Regal mit Büchern zu Digitalthemen und natürlich auch zum grossen Hype ChatGPT und generative künstliche Intelligenz. Man wird auf Tafeln und Schildern immer wieder mal gemahnt, dass man nicht auf das Smartphone blicken soll mitten im Verkehr. Überhaupt scheint Japan mehr Warnungen und Regeln zu haben als anderswo. Diese sorgen jedoch insgesamt für angenehme Ordnung und ein reibungsloses Miteinander. Als Architektur- und Kunstfan kam ich natürlich voll auf meine Kosten. Seien es Gebäude in Tokio wie das ikonische V88 Building, das tolle Fuji-Museum von Stararchitekt Shigeru Ban oder auch japanisches Weltkulturerbe wie die berühmte Pagode in Kyoto oder die Tempel in Nara. Yoyoi Kusama ist auf der Kunstinsel Naoshima sehr präsent und hat in Tokio ein eigenes Museum. Meine Lieblingsbahnhöfe waren die kolossale Kyoto Station von Architekt Hiroshi Hara und die sehr kleine und hübsche Uno Station. Beeindruckt war ich zudem vom Museum in Hiroshima des berühmten Architekten Kenzo Tange und gefallen hat mir auch der Kyoto Tower, der einen tollen Blick über die Stadt der Tempel und Gärten bietet. Einige tiefgründige Gedanken über Mensch und Technik verlangte mir der Film «Oppenheimer» ab, den ich im Flugzeug geschaut hatte. Der frisch oscar-prämierte Film befasst sich mit der Entwicklung der Atombombe in den USA und deren Abwurf in Japan. Dass wir sowohl Hiroshima und Nagasaki besuchten, machte die Auseinandersetzung mit der Frage, wann dem Menschen die technologische Entwicklung entgleitet, um so drängender. Ob wir in Sachen künstlicher Intelligenz bereits so weit sind wie mit der Atombombe (wie dies einige behaupten), wage ich zu bezweifeln. Das Atomic Bomb Museum in Nagasaki fokussiert auf die Opfer, deren Geschichte bis heute fast unerträglich ist. Das Friedensdenkmal in Hiroshima, der Atomic Bomb Dome, ist eine sehr einprägsame Gedenkstätte. Nagasaki war während der historischen Abschottungsphase Japans das einzige Tor in den Westen. In dieser Stadt befindet sich auch das Gunkanjima Digital Museum, das interessante Einblicke in die Geschichte der Industrialisierung von Japan bietet und zudem per VR-Brille ein Besuch der Insel ermöglicht. Deutlich später als in anderen Jahren begann die Blütensaison in Japan. Die Kirschblüten und ihre Verehrung waren ein Motiv unserer Reise. Die Natur hatte jedoch auch sonst noch einige Höhepunkte zu bieten: die heissen Quellen in Beppu mit ihren natürlichen Farben, die Bambuswälder, die Hirsche und Bäume in Nara, die Seto Inland Sea mit ihren hübschen Inseln, der Vulkan Aso. Ein grosses Highlight in Tokio ist das Mori Building Digital Art Museum. Das Museum wird vom teamLab betrieben, einem internationalen und interdisziplinären Kunstkollektiv, das 2001 in Tokio gegründet wurde. Ich habe schon verschiedentlich Digitalkunst besichtigt, aber dieses Museum hat meine Vorstellungskraft gesprengt, was mit modernen Projektoren, raffinierter Programmierung und künstlerischer Inszenierung möglich ist. Man muss sich unbedingt frühzeitig um Tickets kümmern, am besten einige Wochen im Voraus. Zum Schluss besuchte ich noch Akihabara, das so genannte Electric District. Akibahara gilt als das Herz des japanischen Elektronikhandels. Ich fühlte mich in die 1990er-Jahre zurückversetzt, weil die damals grossen Technologie-Brands immer noch gut vertreten, aber gefühlt in der Zeit stehen geblieben sind. So waren mir als Kind die Marken Sony, Panasonic, Nikon, Canon und Toshiba zum Beispiel sehr wohl bekannt. Inzwischen wirken die damaligen Top-Brands etwas angestaubt. Amüsiert habe ich mich über den Dream AI Interpreter, ein Gerät, das im Kontakt mit Touristinnen und Touristen oft verwendet wird, um sprachliche Hürden zu überwinden. Ebenfalls sehr präsent ist im Elektro-Viertel Tokios die Manga- und Animé-Kultur, mit der ich leider nicht so viel anfangen kann. Deutlich mehr Zugang habe ich zur Game-Kultur, die mit Nintendo und anderen Unternehmen ebenfalls stark japanisch geprägt ist. Am Sonntagnachmittag war die Hauptstrasse gesperrt und Akihabara glich einem Vergnügungsviertel mit vielen Elektronikshops, Manga-Merchandise und Maid-Cafés. Trotz regem Treiben auf der Strasse war es interessanterweise draussen leiser als in den Elektronik-Einkaufszentren, die ohrenbetäubend laut waren und einer regelrechten visuellen Reizüberflutung glichen. Die Japan-Reise war in vieler Hinsicht unvergesslich und ich könnte mich auf Wunsch auch ausführlich über die Esskultur, die Hygienevorstellungen, die Sprache und ihre Verschriftlichung, die Wirtschafts-, Kriegs- und Kolonialgeschichte auslassen. Oder was ich alles über verschiedene Kirschblüten gelernt habe. Aber ich beschränke mich auf ein Fazit mit Fokus auf Technologie:
Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Japan ein Blick in die technologische Zukunft biete. Einige der angesagtesten Elektronikmarken stammten in meiner Kindheit und Jugend aus Japan. Das galt auch für Games, die wir spielten. Aus der Ferne hatte ich beobachtet, wie in den USA Technologie-Firmen wie Microsoft, Apple und Google global dominant wurden und auch im Hardware-Bereich Samsung und Apple japanische Konkurrenz problemlos ausstachen. Mir war jedoch klar, dass Robotik in Japan eine andere Rolle spielt als anderswo: Es werden nämlich keine hitzigen Debatten darüber geführt, dass Roboter und künstliche Intelligenz Jobs stehlen, sondern sie werden als nützliche Helferlein gesehen, die durchaus auch mal im Restaurant Getränke und Essen bringen oder Demenzkranke animieren. Die Robotik-Forschung ist immer noch im Spitzenbereich anzusiedeln, aber insgesamt hat Japan gegenüber China und den USA massiv an Marktanteilen verloren und kann seit 1990 nicht mehr so richtig an die einstigen wirtschaftlichen und technologischen Erfolge anknüpfen. Beeindruckt war ich von Ingenieurskunst im Bereich Eisenbahn (Shinkansen) und erdbebensicherer Architektur. Für ein hochmodernes Land fand ich es überraschend, so viele Stromkabel zu sehen, die ich sonst eher aus Ländern mit rudimentärer Infrastruktur kenne. Dass wir auch sehr alte Trams angetroffen haben, die auf dem gleichen Netz wie moderne Trams fahren, war verwunderlich. Man scheint in Japan stolz darauf, Tradition und Moderne souverän miteinander zu verweben. Am meisten bleibt mir, dass Japan technologisch nicht auf Disruption, sondern auf Integration setzt. Es geht nicht darum, mit Technologie bestehende Prozesse zu ersetzen, wie dies im Silicon Valley oder in China eher praktiziert wird. Es geht nicht darum, Bargeld oder Papier an sich abzuschaffen, sondern mit neuen technologischen Möglichkeiten Prozesse zu erweitern, ohne Bewährtes über Bord zu werfen. Sowohl Bargeld wie auch Papier waren für mich überraschend präsent. Ich erhielt den Eindruck, dass der japanische Ansatz eher userzentriert und prozessorientert ist als viele Digital-Only-Strategien, die bei uns als modern gelten. Auch wenn es für die Betreiber von Getränkeautomaten und im öffentlichen Verkehr effizienter wäre, nur digitale Bezahlmöglichkeiten anzubieten, bleibt Cash eine beliebte Option. Der Fokus liegt auf möglichst effizienten Abläufen, die niemanden ausschliessen, technologisch Neues kommt ergänzend dazu, statt Vorheriges gezwungenermassen zu ersetzen. So kam es ganz unerwartet, dass ich meine persönliche Herangehensweise an Technologie in Japan wiedergefunden habe: Freude an neuer Technik, aber immer die User und den Prozess im Blick und gerne auch einmal eine bewährte alte Technologie beibehalten, statt alles Bestehende mit einer noch unausgereiften digitalen Technologie ersetzen. Danke, Japan!
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Sarah Genner, PhD, is a digital expert, keynote speaker, and board member. She is the owner of GENNER.CC, based in Zurich, Switzerland, and the Cocos Islands.
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